TEMPORAMORES - Newsletter # 415 - 30.11.2025




KURZMELDUNGEN

Die 1984 in München geborene Theresa Hannig gehört zu einer seltenen Sorte von Menschen: Sie ist Optimistin, genauer gesagt „Berufsoptimistin“. Das bedeutet, dass das Lesen ihrer Bücher, Geschichten, Essays und sonstigen Texte – ganz entgegen allem sonst Gewohnten – gute Laune macht. Nun hat Hannig bereits mehrere Romane geschrieben und dafür auch Preise bekommen, war in einigen Anthologien mit Beiträgen vertreten und ist seit einigen Jahren als fleißige Kolum­nistin für die TAZ tätig. In ihren Artikeln tauchte im Herbst 2023 ein freundlicher Zeitreisender mit Namen Felix auf, der aus der Zukunft gekommen war, um Hannig zu helfen. Denn, wie sie es auch selbst formuliert, „Berufsoptimistin sein ist ein harter Job“. Wie gut ihr die Unterstützung durch Felix getan hat, können wir nun in dem handlichen Büchlein „ÜBERMORGEN – Geschichten aus einer besseren Zukunft“ (Hirnkost, ISBN 978-3-9885717-141-0, 127 S., Hardcover) alle selbst nachlesen. Die Form der mehr als 30 Texte wechselt stetig (und so auch gewollt) zwischen Erzählung und Essay. Zumeist wird ein politisches oder kulturelles oder gesellschaftliches Ereignis als „Aufhänger“ benutzt, um das Gespräch zwischen Felix und Theresa in Gang zu bringen. Darin präsentiert zumeist die engagiert-echauffierte Autorin ihre Sicht – nur um sich dann von Felix beruhigen zu lassen, dass nicht alles so wichtig ist, wie es scheint, dass sich Dinge auch zum Besseren wenden können und dass Gelassenheit und Optimis­mus hilfreicher dabei sind, eine Lösung zu finden, als Panik und Kopf-in-den-Sand-stecken. Uns allen wird es gut tun, dieses Buch zu lesen (notfalls auch mehrmals, einige Ideen sind schon sehr herausfordernd) und daraus ebenfalls Kraft, Ruhe und Optimismus zu schöpfen. Allerdings bedeutet das nicht, dass dann alles von alleine besser wird – Achtsamkeit, Engagement (und manchmal auch ein klein wenig Wut) sind weiterhin nötig. Mitmachen und sich einbringen sind Tugenden, die wir pflegen müssen, dann klappt das auch mit der „besseren Zukunft“ besser.

Der US-Amerikaner Robert Jackson Bennett gehört seit einigen Jahren zu den Autoren, deren Werke einem auf Grund ihrer Qualität immer wieder begegnen, sei es im Bücherregal oder bei Meldungen über verliehene Preise. Bennett ist ein Tausendsassa, der gerne mit allen phantastischen Genres spielt. Seit Neuestem schreibt er auch noch Krimis, die zwar dem klassischen „Wer ist der Mörder?“-Plot folgen, aber in bemerkenswerten Umgebungen angesiedelt und mit einem Personal bestückt sind, für die das Wort „exzentrisch“ eine absolute Untertreibung wäre. Zugleich ist Bennett aber auch ein Besessener, der auf jedes Detail achtet, das Timing beherrscht und erst zufrieden ist, wenn auch ein Sherlock Holmes unter seiner Leserschaft bis zum letzten Kapitel den Hinweisen folgen und Zeile für Zeile lesen muss. Und so ist sein Roman THE TAINTED CUP (Adrian, ISBN 978-3-98585298-7, 416 S.), der leider keinen deutschen Titel besitzt, nicht nur ein spannender Thriller und eine staunenswerte Urban Fantasy-Geschichte, sondern vor allem ein großer Lese-Spaß, der schon bei der Buchgestaltung beginnt (der Einband sieht aus, als hätte die Raupe aus ALICE IM WUNDERLAND sehr starken Tobak geraucht) und auch nach der Lösung des Falles noch nicht zu Ende ist, denn Bennett sprüht selbst in der angehängten Danksagung noch voller Be-Geist-erung. Die Übersetzer*innen Jakob & Karla Schmidt waren hier sicherlich stark gefordert, hatten jedoch wohl ihren Spaß, denn das Buch liest sich flüssig und ohne Stolpersteine. Empfehlenswert.


Am Samstag bekam ich die monumentale Ausgabe von Arno Schmidts TAGEBÜCHER DER JAHRE 1957–1962 (Suhrkamp, ISBN 978-3-518-80460-5, 777 S.). Natürlich habe ich zuerst den 8.3.58 nachgeschaut (Eitelkeit pur). Das Buch wird mir noch sehr viel Freude bereiten!

AD 1999: Auf dem Planeten Erde erscheint mit DIE 13 ½ LEBEN DES KÄPT’N BLAUBÄR das erste Buch von Walter Moers, das auf dem bisher unentdeckten Kontinent Zamonien spielt. AD 2025: Das Dutzend ist voll – mit QWERT (Penguin, ISBN 978-3-328-60427-3, 582 S., Hardcover / auch als Hörbuch erhältlich) legt Moers sein zwölftes Zamonien-Buch vor, gleichzei­tig das erste, das auf der Parallelwelt Orméa angesiedelt ist. Und dort folgen wir den Abenteuern des legendären Prinz Kaltbluth, der gar nicht Prinz Kaltbluth ist, sondern nur so aussieht, weil in ihm der Gallertprinz Qwert Zuiopü steckt, der aus der 2364. Dimension stammt, dann aber in ein Dimensionsloch gefallen ist und nun auf recht unsanfte Weise in Prinz Kaltbluths Körper stürzt. Was ihm auf Orméa dann alles widerfährt, schildert der Roman in 43 Aventiuren, die sprachlich-stilistisch ein wenig an den historischen Ritterepen des Spätmittelalters angelehnt, jedoch auch gleichermaßen dem DON QUICHOTTE des Miguel de Cervantes und dem Kofferwort-Erfinder Lewis Carroll (und dessen ALICE IM WUNDERLAND & SPIEGELLAND) zu Dank verpflich­tet sind. Da die Inhaltsangabe eines Moers-Buches normalerweise mehr Raum einnimmt als das jeweilige Buch, unterlassen wir weitere Verzögerungstaktiken – also flott ans Werk, das Buch gepackt und aufgeschlagen (oder das Hörbuch gestartet) – und rein ins pure Vergnügen. Oder wie es auf Orméa so treffend heißt: Flamingo!

Als 1978 THE STAND von Stephen King erschien, war der umfangreiche Romantext um mehr als ein Drittel gekürzt. Inzwischen erschienen ungekürzte und sogar erweiterte Fassungen, die aktuelle deutsche Ausgabe von DAS LETZTE GEFECHT hat mehr als 1700 Seiten. Zu den Menschen, für die THE STAND das Buch ihres Lebens ist, gehören u. a. Christopher Golden und Brian Keene. Sie entwickelten die Idee einer Anthologie mit Geschichten, die im von King erfundenen Kosmos von THE STAND angesiedelt sein sollten. Nach einigem Zögern gab der Meister, wie er in seiner „Einleitung“ jetzt schreibt, dann sein Okay. Herausgekommen ist DAS ENDE DER WELT WIE WIR SIE KENNEN (Buchheim, ISBN 978-3-946330-47-9, 926 S.), eine Anthologie mit 34 nagelneuen Stories von 36 Autor*innen. Es wäre müßig diese jetzt aufzuzählen oder einzelne Geschichten hervorzuheben, das ergibt sich bei der Lektüre von selbst – je nach persönlichen Vorlieben und Befindlichkeiten. Um die Stimmenvielfalt zu erhalten beschäftigte Buchheim gleich fünf Übersetzer, das Buch ist fadengeheftet und hat ein Lese­bändchen und der Preis ist Okay. Wer THE STAND – DAS LETZTE GEFECHT noch nicht kennt, sollte sich erst einmal Kings Roman vornehmen, wer das Buch für gelungen hält, dürfte mit den in DAS ENDE DER WELT WIE WIR SIE KENNEN versammelten Geschichten in den nächsten Wochen viel Spaß haben.

In der Reihe „Wiederentdeckte Schätze der Science Fiction“ im Hirnkost Verlag erschien vor kurzem als Band 9 der „prognostische Roman“ DAS AUTOMATENZEITALTER (ISBN 978-3-988570-78-9) von Ri Tokko, einem Pseudonym des aus Nürnberg stammenden Ingenieurs Ludwig Dexheimer (1891–1966). Der mit 662 Seiten sehr umfangreiche Text gehört zu den originellsten Zukunftsentwürfen der 1920er Jahre (auch wenn er dann erst 1930 erscheinen konnte), denn der Autor entwirft eine hochtechnisierte und gleichzeitig politisch weiter ent­wickelte Zukunftsgesellschaft, die u. a. auf Solarenergie und Recycling setzt, KI-gesteuerte Androiden und das Internet verwendet und in der die Gleichberechtigung der Geschlechter erfolgreich durchgesetzt ist. Ein Buch voller herrlicher Ideen!


ZITAT

[Samstag, 8. März 1958] „8:00 -1 kalt und trübe; aber mit einzelnen sehr scharfen Sonnen­schüssen / 13:20 +2½ / 16:10 +2 / Ich arbeite Bücher durch. Lilli summt. / P.: Bayrischer Rundfunk will Beitrag; Pfarrer Marti=Schweiz / ich [trinke] und schreibe ›Kannitverstan‹, - Lilli summt. / Durchsehen, 2 Halbjahrgänge Zach / Lilli badet. O / P: Finanzamt. u. Wohnung Holte: zu klein! / Bläschke: 2h lang. Über Bense geschimpft. / Ich bade O.“

Arno Schmidt – TAGEBÜCHER DER JAHRE 1957–1962  (S. 143)



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