TEMPORAMORES - Newsletter # 356 - 1.5.2022




KURZMELDUNGEN

Seit dem Erscheinen des Romans DAS MINISTERIUM FÜR DIE ZUKUNFT ist Kim Stanley Robinson dem Ghetto der Science Fiction endgültig entwachsen und in der Mitte der literarischen Diskussion über die Zukunft der Menschheit angekommen. In den letzten Jahren erschienen von ihm so herausragende utopische Zukunftsentwürfe wie AURORA, NEW YORK 2140 und ROTER MOND. Der 1952 geborene Robinson und der gleichaltrige Didaktiker und Umweltaktivist Fritz Heidorn sind seit vielen Jahren befreundet. Das bisher schönste Ergebnis dieser Beziehung ist das in Zusammenarbeit mit dem Klimahaus Bremerhaven entstandene Buch KIM STANLEY ROBINSON – ERZÄHLER DES KLIMAWANDELS (ISBN 978-3-949452-31-4, 320 S.), das, neben zehn Kurzgeschichten Robinsons, einen umfangreichen biografischen Essay Heidorns, Interviews, eine Bibliografie und zusätzlich Informationen über das erstaunliche „Klimahaus“-Projekt in Bremerhaven enthält. Großes Lob gebührt dem Hirnkost Verlag für die herausragend liebevolle Buchgestaltung. Nicht nur der zweifarbige Druck, das ausgeklügelte Design und das Eisberg-Titelbild erfreuen Hand und Auge, auch die feste Bindung und das Lesebändchen sorgen dafür, dass man KIM STANLEY ROBINSON – ERZÄHLER DES KLIMAWANDELS immer wieder gerne zur Hand nimmt.

Ich kenne und liebe Kurt Vonneguts Roman SCHLACHTHOF 5 seit vielen Jahrzehnten, habe ihn immer mal wieder zur Hand genommen, und betrachtete den Hinweis auf eine Visualisierung via Bildergeschichte mit etwas zwiespältigen Gefühlen. Nun, nach der Lektüre der Graphic Novel SCHLACHTHOF 5 ODER DER KINDERKREUZZUG (Cross Cult, ISBN 978-3-96658-504-0, 200 S.), für deren Skript der Kanadier Ryan North verantwortlich zeichnet und deren Bilder vom Spanier Albert Monteys stammen, überwiegt die Erleichterung: Dieses Buch war ein Monument seit es 1969 erschienen ist – und es ist ein monumentaler Comic daraus geworden! Autor und Zeichner nehmen sich viel Raum und „übersetzen“ Vonneguts Text gekonnt und respektvoll ins Medium Comic. Beachtlich ist dabei, dass sie nicht nur die, auch bei Vonnegut schon vorhandenen, plakativen Szenen von Sex, Gewalt und Alien-Exotik in den Vordergrund stellen und so billige Effekthascherei betreiben, sondern ihren Protagonisten Billy Pilgrim ebenso geduldig wie liebevoll auch dann begleiten, wenn er sinnend im Bett liegt, Patienten in seiner Praxis untersucht, mit Geschäftsfreunden langweilige Partys feiert oder geduldig die besorgten Vorwürfe seiner Tochter über sich ergehen lässt. SCHLACHTHOF 5 war schon immer mehr als „nur“ ein Anti-Kriegsbuch, ein Science-Fiction-Roman oder eine satirische Zustandsbeschreibung der menschlichen Rasse: Vonneguts Text ist ein Meisterwerk – und die Graphic Novel von North und Monteys wird dem absolut gerecht. Die Transformation in ein anderes Medium ist geglückt und so wird SCHLACHTHOF 5 ODER DER KINDERKREUZ­ZUG nicht nur Menschen erfreuen, die das Original noch nicht kennen, sondern auch allen anderen Vergnügen beim „Wieder-Lesen“ bereiten.

Ab einer bestimmten Größe werden Städte lebendig und suchen sich dann Avatare unter ihren Bewohnern aus, die als Stellvertreter für sie sprechen und handeln. Ausgestattet mit mystisch-magischen Fähigkeiten (ähnlich den Superhelden-Kräften von Comic-Figuren) müssen diese gegen mächtige und uralte außerweltliche Feinde kämpfen, welche die Gelegenheit eines Generationenwechsels dazu nutzen wollen, aus ihrer Dimension in unsere zu wechseln und hier Fuß zu fassen, einen Brückenkopf für eine Invasion zu errichten. Als nun in New York gleich mehrere neue „Wächterinnen“ ihre Ämter in den fünf Stadtbezirken übernehmen, mehren sich die Zeichen, dass der Feind diese Situation ausnutzen will. Und noch während die fünf Avatare versuchen, sich in ihren neuen Rollen zurechtzufinden, beginnen die ersten Angriffe … N. K. Jemisin ist eine der auffälligsten neuen Stimmen der US-amerikanischen Phantastik und hat in den letzten Jahren Genre-Preise abgeräumt wie keine Zweite. In Deutschland erschien zuletzt die Trilogie DIE GROSSE STILLE bei Knaur. Ihren neuesten, wieder allseits hochgelobten Roman DIE WÄCHTERINNEN VON NEW YORK (ISBN 978-3-608-50018-9, 540 S.) hat sich nun der Tropen Verlag gesichert, wo der Titel in der Übersetzung von Benjamin Mildner als Hardcover erschienen ist. Auch wenn der von einigen Kritikern gezogene Vergleich zum wohl berühmtesten New York-Buch MANHATTAN TRANSFER von John Dos Passos vielleicht etwas überzogen ist, so finden sich neben mehr oder weniger deutlichen Querverbindungen zu Alan Moores WATCHMEN-Comic und den Erzählungen eines H. P. Lovecraft bei aller Modernität auch Anspielungen auf Walt Whitmans Lyrik und Mark Twains Humor. Der Urban-Fantasy-Roman DIE WÄCHTERINNEN VON NEW YORK steht auch im erzählerischen Werk von Jemisin noch singulär da, als erster Teil einer neuen Trilogie stellt er jedoch vollumfänglich zufrieden.

Nicht viele Science-Fiction-Autoren weltweit können das Vorweisen: Eine Werkausgabe inklusive des Briefwechsels, diverse Supplement-Bände mit Tagebüchern, fotografischen Arbeiten und Multimedia-Beilagen, eine Gesamtauflage von über einer Millionen Büchern, Faksimile-Ausgaben der Hauptwerke, limitierte Einzelausgaben mit Illustrationen der besten zeitgenössischen Künstler, eine monumentale „Bild-Biografie“ mit Dokumenten seines Lebens, dutzende Hörbücher, gelesen vom Autor und anderen herausragenden Sprechern, mehrere Meter Sekundärliteratur, eine eigene Stiftung, eine literarische Gesellschaft – und jetzt endlich, etwas mehr als vierzig Jahre nach seinem Tod 1979, die langerwartete und -ersehnte BIOGRAFIE! Die Rede ist – natürlich – von Arno Schmidt und von Sven Hanuschek, der bei Hanser soeben den 1000-Seiten Wälzer ARNO SCHMIDT – BIOGRAFIE (ISBN 978-3-446-27098-5) vorgelegt hat. Der Philologe und Canetti-Herausgeber Hanuschek lehrt an der LMU in München und hat sich, als »Fan der ersten Stunde« bewusst einige Jahrzehnte Zurückhaltung auferlegt, bevor er sich an die Mammutaufgabe machte, das Leben dieses sperrigen Schriftstellers nachzuvollziehen. Schmidt hat als freier Autor gleich nach der Gründung der Bundesrepublik begonnen und die politische und gesellschaftliche Entwicklung in beiden deutschen Staaten als aufmerksamer und eigensinniger Kommentator begleitet. Seine Bücher sorgten für Skandale, waren Kult-Lektüre der 68er-Generation und setzten Maßstäbe sowohl im Stilistischen wie im Umfang. Dass sein eigenes Leben, das er für einigermaßen „unspektakulär“ hielt, dann doch genug Material für so einen „Türstopper“ liefern würde, hätte Schmidt selbst wohl am meisten erstaunt.

Und – gerade rechtzeitig zum „Welttag des Buches“ – hat es der Atlantis Verlag geschafft, die neueste, 86. Ausgabe von phantastisch! Das Magazin für Science Fiction, Fantasy & Horror an die Abonnenten und Verkaufsstellen auszuliefern. Das 80-Seiten-Heft beschäftigt sich diesmal ausführlich mit „Frauen im Weltall“, den Comic-Künstlern Shigeru Mizuki und Terry Moore, dem umstrittenen Autor Charles Platt sowie jeder Menge Neuerscheinungen, die (mehr oder weniger) kritisch unter die Lupe genommen werden. Hervorzuheben sind zudem noch die zwei Stories von Madeleine Puljic und Götz Roderer und die Interviews mit Peter Nuyten und Herbert Genzmer. Wieder mal ein überzeugendes, rappelvolles Heft!

Zu guter Letzt: Die Londoner Folio Society schaffte es, ihre inzwischen vierte (diesmal auf 1000 Exemplare limitierte) Ausgabe von J. R. R. Tolkiens THE LORD OF THE RINGS (mit mehr als 100 Illustrationen von Alan Lee) innerhalb von 36 Stunden auszuverkaufen. Einige Exemplare schafften es trotz Brexit über den Kanal. J



ZITAT

„Wir leben in einem großen Science-Fiction-Roman, den wir alle gemeinsam schreiben.“

Kim Stanley Robinson in: Robinson/Heidorn ERZÄHLER DES KLIMAWANDELS (S. 33)



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