TEMPORAMORES - Newsletter # 306 - 31.8.2019




KURZMELDUNGEN

Vor gut zehn Jahren, im Januar 2010, erschien EREBOS, jener utopische All-Age-Thriller, mit dem die 1968 in Wien geborene Autorin Ursula Poznanski ihre Bestsellerkarriere startete. Im August 2019 kam nun die Fortsetzung, EREBOS 2, in die Buchhandlungen. Auch die Handlungszeit ist zehn Jahre weiter und aus den Jugendlichen sind junge Erwachsene geworden, die versuchen, die schrecklichen Erlebnisse von damals zu vergessen. Doch dann meldet sich das Computerspiel plötzlich wieder – und es scheint inzwischen sehr viel klüger zu sein, als ein normales Spiele-Programm …! Der Loewe Verlag zeigt sich sammlerfreundlich und spendiert zum Veröffentlichungstermin eine schön aufgemachte, limitierte Hardcoveredition mit eingedruckter Autorensignatur in Goldprägung (und dazu eine passende Neuauflage von Band 1). Spannende, actionreiche Unterhaltung mit einigen wenigen Science-Fiction-Elementen.

Wenn es ein Buch gibt, das es wert ist, eine eigene „Biografie“ zu bekommen, dann ist das NINETEEN EIGHTY-FOUR von George Orwell. Anlässlich des siebzigsten Jahrestags der Erstveröffentlichung hat der englische Journalist Dorian Lynskey diese Aufgabe übernommen. Sein Sachbuch THE MINISTRY OF TRUTH (Picador, 350 S.) ist fast so spannend geschrieben wie ein Roman. Lynskey erzählt den Lebenslauf Orwells nach, dann stellt er eine Vielzahl von früher veröffentlichten utopischen Werken vor, u. a. von Edward Bellamy, Jewgeni Samjatin, Arthur Koestler, Aldous Huxley und H. G. Wells. Zentral sind die letzten zehn Jahre Orwells, in denen er mit ANIMAL FARM und 1984 zwei der wirkmächtigsten Bücher des 20. Jahrhunderts schrieb. Daran schließen sich Betrachtungen über die Rezeptionsgeschichte in Politik, Kultur, Literatur, Film, Kunst und Musik an. THE MINISTRY OF TRUTH« ist damit eines der beeindruckendsten Sekundärwerke der letzten Jahre.

Dicht gefolgt – in der Reihenfolge beeindruckender Orwell-Bücher – wird Lynskeys Buch von der monumentalen Comic-Biografie GEORGE ORWELL (Knesebeck, ISBN 978-3-95728-154-8, 160 S.) von Pierre Christin (Text) und Sébastien Verdier (Bilder). Die beiden Franzosen erzählen in ausdrucksstarken Bildern (und unterstützt von Kollegen wie Bilal oder Juanjo Guarnido) das Leben des Engländers Eric Blair auf seinem Weg zum weltberühmten Autor George Orwell. Die überwiegend in schwarzweiß gehaltenen Bilder werden an mehreren Stellen durch Farbseiten unterbrochen, auf denen die sechs Gast-Illustratoren Orwells Bücher vorstellen. Aber auch Verdier lässt es sich nicht nehmen, ein paar kleine aber bedeutungsvolle Farbspritzer hinzu zu fügen. Eine sehr empfehlenswerte Bild-Biografie.

Wir alle haben es uns ja schon immer gedacht, aber jetzt ist es sicher: Das eigentliche Problem des Buchhändlers sind seine Kunden! Allerdings sind wir wohl auch die Lösung für die anderen Probleme („Geld, Geld und Geld“, wie Otto so schön sagt). Nachlesen lässt sich das alles in dem sehr vergnüglich geschriebenen TAGEBUCH EINES BUCHHÄNDLERS (btb, ISBN 978-3-442-71865-8, 450 S., kartoniert) des schottischen Antiquars Shaun Bythell. Bythell, der seit 2001 mit „The Bookshop“ die größte Gebrauchtbuchhandlung Schottlands führt, hat schon fast alles erlebt. Seine kurzen, knappen, aber immer treffsicheren Tagebucheinträge zeigen das Leben in einer Buchhandlung so exemplarisch, dass man sich bei der Lektüre ständig dabei ertappt, zu rufen: „Genau!“, „Hab ich letzte Woche erst gesehen“, oder, fast noch schlimmer, „Mach ich selbst auch andauernd“. Das Taschenbuch eignet sich vorzüglich als „Klo-Lektüre“ oder für den täglichen Weg zur Arbeit, da die Einträge meist nur ein oder zwei Seiten lang sind. Und für die Hardcore-Buchhandlungs-Besucher steht an jedem Monatsbeginn ein Zitat von George Orwell.

So lasst uns jubilieren und Freudenlieder singen: Die beliebteste Science-Fiction-Serie der letzten Jahrzehnte, die in den USA VORKOSIGAN-Saga genannte, bei uns unter dem Obertitel BARRAYAR-Zyklus veröffentlichte Space Opera von Lois McMaster Bujold hat Zuwachs bekommen. In der Subterranean Press erschien soeben die knapp 100 Seiten kurze Novelle THE FLOWERS OF VASHNOI (ISBN 978-1-59606-892-6, Hardcover), in der Miles Vorkosigans Gattin Ekaterin die Hauptrolle spielt und gemeinsam mit einem Biologen in einer Sperrzone auf Barrayar wissenschaftliche Feldforschung betreibt. Die Geschichte ist zeitlich nach CAPTAIN VORPATRIL’S ALLIANCE (2012, keine deutsche Ausgabe) einzuordnen, lässt sich jedoch auch als unabhängige Abenteuergeschichte lesen (es hilft allerdings, wenn man schon mal in einen anderen Band der Serie reingelesen hat). Der umlaufende Schutzumschlag von Jenn Ravenna passt zum leicht und schwebend daherkommenden Inhalt.

Bereits 2017 erschienen ist DER KANON MECHANISCHER SEELEN (Amrun, ISBN 978-3-95869-257-2, Hardcover) von Michael Marrak. Dieser über 700 Seiten starke Roman fand zwar seinen Weg in die Sammlung, nicht aber aufs Lesepult. Bis – ja, bis mir ein lieber Mensch das dazugehörige, ungekürzte Hörbuch ausgeliehen hat. Bereits nach den ersten Minuten war mir klar, dass ich hier ein echtes Juwel übersehen hatte. Das Schöne an Büchern ist aber, dass sie das nicht übel nehmen und trotzdem sofort willig zur Verfügung stehen, wenn man sie dann doch lesen mag – jedenfalls die Bücher in meinen Regalen. Bei den Büchern in Marraks KANON sieht das schon ganz anders aus. Je nachdem, welcher „Wandler“ sie „beseelt“ hat, bzw. welches Schicksal ihnen widerfahren ist, können die Dinger ganz schön ungemütlich werden. Der Autor, der auch als Illustrator hervorgetreten ist, hat fast ein Vierteljahrhundert an diesem Opus Magnum geschrieben. Einzelne Ideen fanden ihren Ausdruck in Novellen oder Kurzgeschichten, die zwischenzeitlich in Magazinen veröffentlicht wurden und den Lesern den Mund wässrig machten. Eine dieser „Keimzellen“ des Romans, steht auf TOR-online.de zur kostenlosen Lektüre bereit. Es war jedoch die, nur bei Audible erhältliche, von Hörbuch Hamburg produzierte und von Stefan Kaminski gelesene (ach was: gelesen, das ist mit absoluter Sprachartistik vorgetragene Rezitationskunst!) Hörbuchfassung, die mir 21 Stunden lang das allerhöchste Vergnügen bereitete. Kaminski, der ausgezeichnet z. B. Frank Schätzings DER SCHWARM oder die Romane von Patrick Rothfuss und Kevin Hearne eingelesen hat, übertrifft sich hier einfach selbst. (Gleich mehrfach fühlte ich mich an die Meilenstein-Lesungen der Moers’schen ZAMONIEN Bücher durch Dirk Bach erinnert.) Völlig zu Recht hat Marrak mit DER KANON MECHANISCHER SEELEN im Jahr 2018 den Publikumspreis SERAPH und den Kurd Laßwitz Preis für den besten Roman gewonnen.



ZITATE

„In einer Stadt wie London gibt es immer eine Menge nicht amtlich registrierter Geistesgestörter auf den Straßen, und diese werden gewöhnlich von Buchhandlungen magisch angezogen; denn eine Buchhandlung ist einer der wenigen Orte, an denen man lange Zeit herumlungern kann, ohne Geld auszugeben. Schließlich erkennt man diese Leute schon fast auf den ersten Blick. Bei all ihrem großen Gerede wirken sie irgendwie mottenzerfressen und ziellos.“

George Orwell, in: Bythell – TAGEBUCH EINES BUCHHÄNDLERS (S. 164)

 

„Amerikanische Comics (widerlich). Wer wollte ein Kind großziehen und ihm unerschrocken diese bunten Comic-Hefte geben, in denen unheimliche Wissenschaftler in versteckten Labors Atombomben herstellen, während Superman zwischen den Wolken hindurchfliegt und Gewehrkugeln an seiner Brust abprallen wie Erbsen, oder wo platinblonde Frauen von Robotern aus Stahl und 15 Meter langen Dinosauriern vergewaltigt werden.“

George Orwell, in: Christin & Verdier – GEORGE ORWELL (S. 106)



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