TEMPORAMORES - Newsletter # 252 - 12.8.2016




KURZMELDUNGEN

Eines der unverwüstlichen Meisterwerke der Science Fiction ist SCHLACHTHOF 5 ODER DER KINDERKREUZZUG, jener Roman aus dem Jahr 1969, mit dem Kurt Vonnegut das Trauma aufarbeitete, das er 1945 als Kriegsgefangener bei der Bombardierung Dresdens erlitt. Im Verlag Hoffmann und Campe erschien soeben eine hervorragende Neuübersetzung des Buches von Gregor Hens (ISBN 978-3-455-40555-2, 240 S.), die flotter und moderner ist, etwas näher am Original, etwas pfiffiger bei Schimpfwörtern und Slang-Ausdrücken. Im direkten Vergleich mit der Übersetzung von Kurt Wagenseil aus dem Jahr 1970 ergibt sich, dass SCHLACHTHOF 5 ODER DER KINDERKREUZZUG dieses „Upgrade“ nicht nur gut verkraftet hat, sondern auch einem „Altleser“ wie mir noch das Gefühl einer Neuentdeckung gegeben hat. Mit dieser Edition ist der SCHLACHTHOF 5 für die nächste Lesergeneration bereit.

Als Neil Armstrong im Juli 1969 den Mond erreicht, muss er überrascht feststellen, dass er zwar der erste Mensch dort oben ist, jedoch nicht der erste Besucher von der Erde – eine kleine Fahne und winzige Fußspuren weisen den Weg in die richtige Richtung. Wer jetzt an Torben Kuhlmanns Bilderbuch-Erstling LINDBERGH – DIE ABENTEUERLICHE GESCHICHTE EINER FLIEGENDEN MAUS aus dem Jahr 2014 denkt, ist schon auf der richtigen Fährte. In ARMSTRONG – DIE ABENTEUERLICHE REISE EINER MAUS ZUM MOND (NordSüd, ISBN 978-3-314-10348-3, 128 Seiten) setzt der Illustrator und Kommunikationsdesigner die Historia von der Mäuse-Luftschifffahrt  fort. Kuhlmanns kontrafaktische Geschichtsschreibung zeigt in wunderschönen, detailverliebten Bildern, mit welch großen Widrigkeiten und Problemen, mit welchen Gefahren und Rückschritten der Weg zum Mond auch für kleinere Intelligenzwesen gepflastert ist – und wie Erfindungsreichtum, Mut und der Glaube an die Wissenschaft aus einer bloßen Möglichkeit eine geschichtsträchtige Tatsache werden lassen. ARMSTRONG – DIE ABENTEUERLICHE REISE EINER MAUS ZUM MOND ist ein Bilderbuch der ganz besonderen Art. Und wer hätte gedacht, dass Amerika einmal von einer Maus „erobert“ wird, die am Zeichentisch eines deutschen Künstlers entstanden ist.

Der britische Autor J. G. Ballard hat die Form der minimalistischen Katastrophen-Erzählung in vorher ungekannte Höhen geführt. In seinen Geschichten gibt es nur sehr wenig „Handlung“ und kaum „Action“, dafür erleben seine Figuren die ihnen zugefügten Heimsuchungen, Verletzungen, Plagen, Unfälle und Missgeschicke häufig als faszinierende Abfolge von Ereignissen, die sie nicht nur widerspruchslos hinnehmen, sondern oft auch noch voller Hingabe erwarten. In seinem neu aufgelegten Hochhaus-Roman HIGH-RISE (ISBN 978-3-03734-932-8, Diophanes, 2016, 250 Seiten) aus dem Jahr 1975 erreicht dieser Kulturpessimismus enorme Ausmaße. Mehr als zweitausend Menschen schließen sich freiwillig in einem 40-stöckigen Betonkomplex ein und beginnen eine sinn- und erbarmungslose Orgie der gegenseitigen Zerstörung, die sämtlichen Perversionen Raum zur Entfaltung bietet. Auf höchstem stilistischem Niveau, und von Michael Koseler hervorragend übersetzt, betrachtet Ballard seine Mitmenschen wie im Reagenzglas einer chemischen Versuchsanordnung befindlich. Dieser Roman ist erbarmungslos und verstörend und gleichzeitig fesselnd und einzigartig.

Als Kurzgeschichtenautorin hatte Alice Sheldon unter ihren Pseudonymen James Tiptree jr. und Raccoona Sheldon in den Jahren zwischen 1968 und 1977 die Science Fiction ordentlich durcheinander gebracht. Nachdem ihre „Tarnung“ 1977 aufgeflogen war, versuchte sie sich 1978 erstmals an einem längeren Text. Das Ergebnis war der SF-Roman UP THE WALLS OF THE WORLD, der 1980 bei Heyne unter dem Titel DIE FEUERSCHNEISE auch auf Deutsch erschien. Allerdings dauerte es dann bis jetzt, bevor der Wiener Septime Verlag das Buch im Rahmen der Tiptree-Werkausgabe als DIE MAUERN DER WELT HOCH (ISBN 978-3-902711-46-5, 500 S.) in einer Neuübersetzung von Bella Wohl wieder zugänglich macht. Der Roman erzählt vom Aufeinandertreffen dreier Rassen, den Menschen der Erde, den fliegenden Rochen des Planeten Tyree und DEM ZERSTÖRER (der ähnlich wie Terry Pratchetts TOD nur in Versalien kommuniziert bzw. denkt), einem unfassbar großen und fast allmächtigen Wesen, dessen Wirken sich katastrophal auf alles auswirkt, das in seinen Weg gerät. Auf Tiptree-typische Weise verläuft dieser dreifache Erstkontakt jedoch ziemlich anders, als dies in der Science Fiction sonst üblich ist. Nicht ganz so stark wie viele der Kurzgeschichten, dafür mit sehr viel Emphase und Optimismus geschrieben – etwas, das heutzutage in der Literatur viel zu kurz kommt.

Endlich kann man einen der wichtigsten und besten Science-Fiction-Romane aller Zeiten wieder empfehlen, ohne hinzufügen zu müssen: Nur noch antiquarisch erhältlich. Heyne hat soeben in seiner Reihe „Meisterwerke der Science-Fiction“ den Roman LEBEN OHNE ENDE (ISBN 978-3-453-31436-8, 527 Seiten) von George R. Stewart in einer von Alexander Martin sehr gut überarbeiteten Neuausgabe veröffentlicht. In einer nicht allzu fernen Zukunft vernichtet eine Seuche den größten Teil der Menschheit. Die wenigen Überlebenden und müssen sich in den Trümmern der Zivilisation neu einrichten. LEBEN OHNE ENDE erzählt von einer solchen Gruppe, die sich in Kalifornien, in der Ge­gend von San Fran­cis­co, zusammen­fin­det. Während man anfangs noch versucht, Regeln zu be­ach­ten, zeigt sich bald, dass der bloße Überlebenskampf keine Zeit lässt für soziale und humanistische Ge­fühlsduselei. Der Protagonist Isherwood Williams, genannt Ish, schlägt sich durch diese schlimme Zeit, findet neue Freunde, zeugt Kinder und muss mit ansehen, wie die Welt, wie er sie kannte, im Dunkel versinkt. Nach einem bedauernden Blick auf die Mil­lionen Bände der Universitätsbibliothek, die während eines kalten Winters als Feuerung dienen, übernimmt Ish die Aufgabe, we­nig­stens Rudimente des zivilisatorischen Wis­sens zu bewahren und durch das Erzählen von Geschichten und praktischen Anleitungen an die Jungen weiter­zu­ge­ben. Er lebt lange genug, um die ersten Formen einer neuen, natur­ver­bundenen Gesellschaft zu erleben. Ihm selbst bleibt es nicht erspart, von seinen Leuten zu einem Halbgott erhoben zu werden, der letztlich in der Folk­lore wei­terleben wird. Aus der Vielzahl von Nachkatastrophen-Romanen, die nach dem Zweiten Weltkrieg erschienen, ragt George Stewarts Buch vor allem durch seinen ruhigen und klaren Erzählstil heraus. Seine abgeklärte, kompetente Sicht auf den Men­schen in einer solchen Ausnahmesituation, stellt den Roman in eine Reihe mit klassischen Werken wie Jack Lon­dons DIE SCHARLACHPEST und John Wyndhams DIE TRIFFIDS. In einem ausführlichen Nachwort beschäftigt sich Uwe Neuhold nicht nur mit der genretypischen „Lust an der Apokalypse“, sondern auch mit den Möglichkeiten einer „Superseuche und dem Leben danach“.



ZITAT

 „Das Wichtigste, was sie den anderen klarmachen möchte, ist, dass sie so viel Zeit haben werden. Vielleicht alle Zeit der Welt. Und während wir unsere Reise immer weiter und weiter fortsetzen, wie lange sie auch dauern mag, werden unterschiedliche Möglichkeiten auftauchen. Unterschiedliche Handlungen werden dringender oder richtiger erscheinen. Wir kennen noch nicht einmal alle unsere eigenen Kräfte. Also lasst uns retten, was uns zur Rettung begegnet, erfahren, was wir erfahren können, verändern, was sinnvoll zu verändern scheint. Auf diese Weise werden wir lernen und wachsen. […] Jetzt weiß sie, was sie sagen wird: »Lasst uns alles ausprobieren!«

James Tiptree jr. – DIE MAUERN DER WELT HOCH (S. 498)



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