So. Buchmesse rum.
Bücherhaufen links. Tastatur vorne. Wasserflasche rechts. Auf geht’s! Dieser
Newsletter, sagt mir mein Gefühl, wird wohl etwas umfangreicher als gewohnt,
also lehnen Sie sich zurück und nehmen Sie sich für heute nichts mehr vor.
Den größten Brocken (sowohl
zahlen- wie formatmäßig) lieferte der Berliner Hirnkost Verlag, der ja vor
allem Jugendkultur macht und für den Science Fiction lange Zeit eine Nische
war. Inzwischen sieht das, vor allem wegen der herausragenden Reihe „Wiederentdeckte
Schätze der deutschsprachigen Science Fiction“, etwas anders aus. Deren achter
Band ist Werner Illings sozialpolitischer
Zukunftsroman UTOPOLIS (ISBN 978-3-98857-072-7, 450 Seiten) aus dem Jahr 1930,
der jetzt in einer vorbildlichen Neuausgabe vorliegt. Illing war gleichermaßen
staatsphilosophischer Vordenker wie antizipierender Visionär. Seine utopische
Zukunftsgesellschaft besitzt selbstfahrende Autos, Fernsehen und
Telekommunikation, Magnetschwebezüge und Strahlenwaffen ebenso wie (noch vor Aldous Huxley) Wissensvermittlung
mittels Hypno-Schlaf. Versehen mit einem Vorwort von Hans Frey und einem Nachwort von Joachim Ruf, ergänzt durch ein gutes Dutzend Kurzgeschichten
Illings, bietet sich UTOPOLIS hier zu einer (Neu- oder Wieder-)Entdeckung an,
die belegt, dass die deutsche Science Fiction der Weimarer Zeit durchaus
Weltniveau besaß.
Schwer getroffen vom Verlust
des „Wiederentdeckte Schätze“-Mitherausgebers Hans Frey (1949–2024) ging man bei Hirnkost in die Offensive und
veröffentlicht nun als ersten Sonderband der Reihe die überformatige
Zusammenstellung FORTSCHRITT UND FIASKO / AUFBRUCH IN DEN ABGRUND (ISBN 978-3-98857-120-5,
685 Seiten), in der die beiden ersten Bücher Freys zur Geschichte der
deutschsprachigen Science Fiction enthalten sind. Das emotionale Vorwort stammt
von Hardy Kettlitz, das Nachwort
steuerte Karlheinz Steinmüller bei,
der wohl in Zukunft Freys Platz als Mitherausgeber an der Seite von Verleger Klaus Farin einnehmen wird. Der
Mammut-Band erzählt die Genre-Historie von 1810 bis 1945 in Freys
unnachahmlichem, weil überaus lesbaren Stil: kenntnisreich, liebevoll, objektiv
und absolut auf der Höhe der Zeit.
Nicht innerhalb der Science-Fiction-Klassiker-Reihe,
jedoch in Erscheinungsbild und Ausstattung an diese angelehnt, veröffentlicht
Hirnkost seit einiger Zeit die Werke von Bertha
von Suttner. Dass Suttner (1843–1914) eine der bemerkenswertesten
Persönlichkeiten der vorletzten Jahrhundertwende war, deren unermüdlicher
Einsatz für den Frieden und die Menschenrechte ihr eigentlich ewigen Ruhm hätte
bescheren müssen, wird immer mehr zum Allgemeinplatz; dass Suttner aber auch
eine fleißige Produzentin von phantastischer Literatur war, gehört immer noch
zu den großen Geheimnissen der Philologie. In dem „umgekehrten Fürstenspiegel“
SCHACH DER QUAL (ISBN 978-3-98857-138-0, 229 Seiten), erstmals 1898 erschienen,
lässt Suttner den steinreichen „Prinz Roland“ an den Qualen verzweifeln, die
Mensch und Tier erleiden müssen. Deshalb beschließt er, eine Programmschrift zu
veröffentlichen, mit der er seinesgleichen zu einer empathischen und die Welt
liebenden Gemeinschaft zusammenbringen will, analog zum Kampfruf der Arbeiter
unter dem Schlagwort „Aristokraten aller Klassen, vereinigt euch zum Kampf
gegen alle Qual!“ Diese erste Neuausgabe nach über 125 Jahren zeigt deutlich,
welchen Idealen Bertha von Suttner anhing. In Margot Käßmanns sehr persönlichem Vorwort wird dann auch klar, dass
Suttners Vorbild mehr auf einzelne Personen als auf größere Gruppen wirkte –
aber immerhin!
Große Ereignisse werfen ihre Publikationen voraus: Das inzwischen
professionell gewordene ehemalige Fanzine EXODUS
wird laut Herausgeber René Moreau
vermutlich mit der Jubiläums-Nummer 50 sein Erscheinen einstellen. Doch vorher
wurde Anfang April die Ausgabe 49 ausgeliefert. Wie immer geht es um „Science
Fiction Stories & Phantastische Grafik“, wie immer sind die 116
Hochglanzseiten gefüllt mit großartigem Artwork (diesmal u. a. Illustrationen
von Mario Franke, Thomas Franke, Detlef
Klewer, Nicole Erxleben, Andreas Möller und Niklas Peter Robin Kappenstein) und herausragenden
Kurzgeschichten. Die 14 Stories verfassten Stammautoren wie Uwe Post, Marco Rauch, Ulf Fildebrandt,
Roland Grohs und Wolf Welling,
andererseits sind mit Moritz Boltz
und Johann Lotter auch Neulinge zu
begrüßen. Ein Novum bietet das „Story-Doppel“ von Andreas Eschbach und Attila
Geole. Da Geoles Geschichte „Writing Tomorrow“ direkt als Hommage an
Eschbachs „Driving Tomorrow“ gedacht war, wurde bei diesem nachgefragt und er
erteilte die Erlaubnis, seine Story gleich mit abzudrucken. Den „Galerie“-Teil
und die Einbandillustrationen bestreitet diesmal Cuculum (aka Axel Kuckuk),
der mit mehr als 20 Arbeiten vertreten ist und von Katharina s. East vorgestellt wird. Dass es die EXODUS in irgendeiner absehbaren Zukunft
nicht mehr geben soll, wird von Heft zu Heft weniger vorstellbar!
Nachdem es für 2025 nicht
geklappt hat, nahm man beim Atlantis Verlag jetzt allen Kritikern den Wind aus
den Segeln: der Kalender PHANTASTISCHE WELTEN 2026 (ISBN 978-3-86402-964-6)
liegt seit Ende März vor und kann beim Verlag bestellt werden. Unter der Ägide
von Meisterdesigner Timo Kümmel
haben die Redakteure von COZMIC,
phantastisch! und EXODUS zwölf
herausragende Bilder aus ihrem reichen Fundus herausgesucht und für ein
eindrucksvolles Kalender-Projekt zur Verfügung gestellt. Die Arbeiten von Jan Hoffmann, Michael Vogt, Olaf Kemmler,
Dirk Berger, Frauke Berger, Helmut Wenske, Hubert Schweizer, Karsten Schreurs,
Meike Schultchen, Paul Hoppe, Thomas Franke und Thomas Thiemeyer kennen viele natürlich, da sie als Cover oder
Illustrationen für besagte Magazine dienten; dort aber waren sie zumeist mit
mehr oder weniger Beschriftungen „verziert“. Hier, in diesem DIN A4 großen
Wandkalender, stehen sie als Kunstwerke eigenen Rechts über dem
Monatskalendarium. Im Anhang finden sich dann noch Kurzporträts der
Künstler*innen. Einziges „Manko“: Das durchaus gelungene Deckblatt von Kümmel
hängt jetzt acht Monate lang „auf dem Kopf“, da wohl niemand darauf geachtet
hat, wo die Lochung ist. J
Obwohl sie seit fast vierzig
Jahren Genreliteratur schreibt, ist Kij
Johnson hierzulande relativ unbekannt geblieben. Das liegt wohl vor allem
daran, dass sie überwiegend Stories und Novellen schreibt und ihre wenigen
Romane in den Bereich der Tierfantasy gehören oder noch gar nicht übersetzt
wurden. Nachdem 2014 bei Golkonda eine erste Sammlung ihrer meisterhaften und
vielfach mit Preisen ausgezeichneten Kurzgeschichten erschienen war, wagt sich
nun der Wandler Verlag daran, diese Ausnahmeautorin erneut mit einem Sammelband
ins Rennen um die Leser*innenaufmerksamkeit zu schicken. DIE TRAUMSUCHE DER
VELLITT BOE (ISBN 978-3-948825-24-9, 238 Seiten, Klappenbroschur) ist eine
Originalzusammenstellung von sechs Erzählungen, von denen die Titelstory mit
120 Seiten gut die Hälfte des wunderschön ausgestatteten Buches einnimmt.
Übersetzt wurden die Geschichten von Hannes
Riffel, wobei man dem Impressum entnehmen kann, dass für die an H. P. Lovecrafts „Traumsuche nach dem
unbekannten Kadath“ angelehnte Geschichte „Die Traumsuche der Vellitt Boe“ der
Lovecraft-Spezialist Alexander Pechmann
als Berater hinzugezogen wurde – so viel Aufwand betreiben in Deutschland nur
ganz wenige Verlage, das Ergebnis kann sich aber auch wirklich sehen lassen.
Der Sog von Johnsons Prosa ist unmittelbar, die Anziehungskraft aller
Geschichten reicht vom ersten bis zum letzten Satz und dass die meisten der
Geschichten nicht nur für einen oder mehrere Preise nominiert waren, sondern
diese auch zumeist gewonnen haben, erschließt sich nach Ende der Lektüre sofort.
Ob Science Fiction, Horror, Phantastik, Fantasy: Johnson zeigt sich als Kennerin
aller Genres und als meisterhafte Geschichten-Weberin. Falls jemals ein
Alien-Sultan das Überleben der Menschheit an das allnächtliche Erzählen von
1001 Geschichten knüpfen würde, sollten wir Kij Johnson dafür auswählen.
Nur Stil und Experiment,
keinerlei nachvollziehbare Handlung: ES WÄHRT FÜR IMMER UND DANN IST ES VORBEI
(ISBN 978-3-518-43222-8, 150 Seiten) von Anne
de Marcken im Suhrkamp Verlag. Der „Roman“ gewann den Ursula K. Le Guin
Prize for Fiction 2024 und wurde von Georg-Büchner-Preisträger Clemens J. Setz aus dem amerikanischen
Englisch in ein dem Original angemessenes, gleichzeitig zärtliches und
verwirrendes Deutsch übertragen. Das lyrische Ich wandert, begleitet von einem
in Rätseln sprechenden Raben, zombiegleich durch eine postapokalyptische Welt –
auf der Suche nach einem „Etwas“, das vergessen ist und das zu finden auch
keine „Erlösung“ böte. Das schmale Hardcover schmückt zudem ein eindrucksvoller
Schutzumschlag. Ein solches Buch ist eigentlich nur bei Adepten der Suhrkamp-Kultur
gut aufgehoben.
Ja, und dann war ich Anfang
April ins Hanauer Märchenschloss zu einer Buchpremiere eingeladen, auf die ich
mich seit Monaten gefreut hatte. Der vor 85 Jahren in Hanau geborene und immer
noch dort lebende Maler Helmut Wenske
(und sein literarisches alter ego Chris
Hyde) stellte zu diesem Lebensjubiläum gemeinsam mit dem Hirnkost Verlag
sein neuestes Buch COLOURS & SOUNDS (ISBN 978-3-98857-126-7, 455 Seiten)
vor. Mit der ihm eigenen Chuzpe hat Wenske/Hyde seine „unkastrierten Erinnerungen
an eine berauschende Zeit“ in die Tasten seiner alten Schreibmaschine
geklopft, hat mittels Kopierer, Schere und Kleber Texte und Bilder auf
schwarzem Karton fixiert und ein Erinnerungsbuch voller „Stories und Malerei
zur Rock-Musik“ zusammengeschustert, das zwar seinen Verleger Klaus Farin zum Haare raufen brachte,
seine treue Leserschaft aber mit einem prachtvoll-gelungenen, quadratischen, auf
superschwerem Hochglanzpapier gedruckten Hardcoverband beglückt. Gleich der
seine Klampfe schwingende höllenviolett-nebelumwaberde Jimi Hendrix auf dem Einband zeigt, wohin die Reise diesmal geht:
die Schallplatten-Cover, Bucheinbände und Poster mit denen Wenske seit den
1960er Jahren das Erscheinungsbild der deutschen Popkultur auf Weltniveau
hievte! Wie nur ganz wenige andere kontinentaleuropäische Künstler verstand es
Wenske, die Kontrolle über sein Werk zu behalten und nur Bilder (und Texte) zu
veröffentlichen, die seinen eigenen Ansprüchen genügten. Dass er dabei als
Art-Director einer Plattenfirma und als selbstständiger Promoter seiner Werke
immer die Kunst über den Kommerz stellte, brachte ihn zwar in manch
wirtschaftliche Turbulenzen, ist jedoch bis heute einer der Gründe dafür, dass
alte Weggefährten (wie die Jungs von NEKTAR) zu ihm stehen und neue, progressive
Bands wie CLIFFSIGHT einen Mentor in ihm finden. In COLOURS & SOUNDS sind
nicht nur die bekannten und erfolgreichen Platten- und Buch-Cover abgebildet,
sondern auch viele Bilder, die bisher weniger Öffentlichkeit fanden, sowie die
Geschichten dazu – und jede Menge Foto-Dokumente, die sowohl den öffentlichen
wie den privaten Künstler und Menschen Helmut Wenske zeigen wie er war und ist:
immer inmitten der Menschen die er liebt (auch wenn die Liebe dieses Hanauer
Urgesteins manchmal getarnt hinter einem knallharten Spruch daher kommt).
Dieses Buch liest sich süffiger als ein Action-Reißer und ist spannender
anzuschauen als das Poesiealbum der Rolling Stones (auch weil Keith Richards die Ehre widerfuhr,
gleich mit drei Porträts vertreten zu sein). Absolut empfehlenswert!
„Was mich betrifft, wär’s mir am liebsten, man würde meine Leiche
irgendwo im dicksten Dickicht im Wald verscharren. Die könnte dann ’ne Wildsau
ausbuddeln und sich den Wanst vollschlagen oder ein hungriger Fuchs fressen.
Irgendwann gingen wohl meine Überbleibsel als tierische Fäkalien zurück in die
Erde, dringen in die Wurzeln der Büsche
und Bäume ein und der Kreislauf des Lebens ist geschlossen. Aber es wäre
mir auch scheißegal, wenn man meinen Kadaver zur Entsorgung in den Löschkalk
schmeißt. Ich hab’s nicht so mit der Pietät und erinnere mich an Verstorbene,
wie sie zu Lebzeiten waren. Ihnen sind meine Bücher gewidmet.“
Wenske/Hyde in: COLOURS & SOUNDS (S. 449)