TEMPORAMORES - Newsletter # 411 - 31.8.2025




KURZMELDUNGEN

Diesmal starten wir mit Comics, denn in den letzten Tagen trudelte allerhand Einschlägiges ein, das gelesen und einsortiert werden will. Da wäre zum Beispiel die „Comics Biography“ WILL EISNER (NBM, ISBN 978-1-68112-357-8, 300 S., Hardcover) von Stephen Winer und Dan Mazur. Das Leben des großen Comic-Künstlers Will Eisner (1917–2005) als „graphic novel“ erzählt – mit Liebe und dem nötigen Abstand. Etwas für die Nostalgiker unter uns.

Auch weil Robert Crumb noch lebt, verbietet sich allzu viel Ehrerbietung und Ergriffenheit. Trotzdem ist es schön, dass Dan Nadel mit CRUMB – A CARTOONIST’S LIFE (Scribner, ISBN 978-1-9821-4400-5, 460 S. Hardcover) eine umfangreiche Biografie und Werkschau zum „Godfather“ der Underground-Comix geschrieben hat. Als Crumb 1943 zur Welt kam, hatte Eisner schon einen ersten Meilenstein in seinem Gesamtwerk gesetzt, und seit ich auf diesem Planeten wandle, zeichnet Crumb seine Comics – was zwar alles nur Zufall ist, aber in diesem Rahmen doch einmal erwähnt werden sollte.

Felix Görmann, der als Flix seit gut einem Vierteljahrhundert die deutsche Comic-Szene bereichert, wurde hingegen erst 1976 geboren, und haut nun einen „Klassiker“ nach dem anderen raus. Zuletzt erschienen: SUPERMAN: THE WORLD (Panini, diverse Ausgaben, ca. 200 S.), genauer gesagt, die 10 Seiten lange Geschichte „SUPERMAN – Man of K-Rupp-Stahl“, mit der er als deutscher Beitrag in der obigen Anthologie vertreten ist. Meine Empfehlung geht natürlich in Richtung auf die limitierte und signierte Premium-Edition, aber den Lektüre-Spaß haben sicherlich auch die Käufer der „normalen“ HC- oder SC-Ausgaben.

Leser*innen der phantastisch! haben in den letzten Ausgaben bereits mehrfach Stories von Roland Grohs lesen dürfen. Allesamt ein Genuss. Der junge Österreicher kann nicht nur hervorragend Judo, sondern gehört zu den spannendsten neuen Stimmen im Bereich der phantastischen Literatur. Im Verlag Brot und Spiele ist jetzt unter dem Titel WELTAUSFALL (ISBN 978-3-903406-37-7, 163 S.) eine ganze Sammlung mit „endzeitlichen Geschichten“ erschienen. Neun Mal nimmt uns Grohs mit in seine Gedankenpaläste und lässt uns jedes Mal staunend zurück vor den Scherbenhaufen, die seine Protagonisten innerhalb weniger Seiten zu produzieren imstande sind. Ein großes Vergnügen, gezogen aus einem kleinen Büchlein.

Ach, wenn wir schon von Kurzgeschichten und ihren Verfassern reden: Unser lieber Freund und Kollege Christian Endres hat mal wieder ein Bravourstück veröffentlicht. Im Heft 18/2025 des Computermagazins c’t (Heise Verlag) erschien soeben „Smarte Tränen“, eine empathische und fesselnde Erzählung über die komplizierten und komplexen Gefühle, die die Besitzer von künstlicher und natürlicher Intelligenz füreinander empfinden können. Wer kann, sollte sich das Heft besorgen, auch wegen der eindrucksvollen Illustration, ansonsten gibt es sicher eine Online-Version. Mein heißer Anwärter für den nächsten Kurd-Laßwitz-Preis!

Mitten aus Englands grünem Herzen stammt die inzwischen in Australien lebende Autorin Molly O’Neill, deren Debütroman GREENTEETH soeben in der stimmigen Übersetzung von Judith C. Vogt bei Piper unter dem „deutschen“ Titel WATERWITCH (ISBN 978-3-492-70677-3, 382 Seiten, Hardcover) erschienen ist. Die magische Geschichte spielt irgendwo in England und irgendwann zwischen Mittelalter und Neuzeit an einem Schnittpunkt der Realitäten: ein englisches Dorf, eine von sagenhaften Wesen bewohnte Natur und das Feenreich bilden den Hintergrund einer spannenden Erzählung um Freundschaft, Liebe und den Verlockungen der Macht. Beim Versuch, sich eine neue Basis für sein schändliches Wirken zu schaffen, stößt der als Pfarrer verkleidete Oberschurke auf den erbitterten Widerstand einer Hexe, einer Teich-Jenny, eines Kobolds und noch ein paar solch bemerkenswerter Wesen. Und ganz am Ende spielt dann auch noch ein altes Schwert eine besondere Rolle … Ein Lektüre-Highlight für jedes Alter.

Es dürfte allgemein bekannt sein, dass ich auf völlig abseitige, verrückte, komplizierte und/oder sonst irgendwie merkwürdige Bücher voll abfahre. Deshalb dürfte es auch niemanden verwundern, wenn ich an dieser Stelle das neue Buch von Percival Everett empfehle, das im Original den anspielungsreichen und hochkomplexen Titel „Dr. No. A Novel“ trägt – der dann in der deutschen Übersetzung von Nikolaus Stingl im Hanser Verlag zu „DR NO Roman“ degeneriert ist. Was aber wohl nicht dem Übersetzer, sondern eher dem hier ungenannt bleiben sollenden Designer anzulasten ist. Da es in Everetts Buch um „nichts“ geht, erübrigt sich auch eine Inhaltsangabe. Wer jetzt immer noch Zweifel hegt, ob DR NO (ISBN 978-3-446-28417-3, 320 S., Hardcover) ein Buch ist, das unbedingt gelesen werden sollte, der möge sich in die Tiefen der ARD-Mediathek begeben und dort nach Denis Scheck und DRUCKFRISCH und Percival Everett suchen – selten hat ein Autor überzeugender „nichts“ zu seinem Buch gesagt!

Ein „Klassiker“ fast schon zu Lebzeiten, hat der viel zu früh verstorbene Thomas Ziegler (1956–2004) ein immer noch recht lebendiges „Erbe“ hinterlassen, dessen Pflege sich Freunde und Fans mit viel Respekt und Hingabe widmen. Zuletzt erschienen: DIE SENSITIVEN JAHRE (p.machinery, ISBN 978-3-95765-463-2, 376 S. Kart.; Cutting Edge 5), eine Sammlung „ausgewählter Erzählungen“ aus den Jahren 1978 bis 1990. Zusammengestellt wurde der Band von Michael K. Iwoleit, Zieglers alter Kampfgenosse Ronald M. Hahn steuerte ein erinnerungsreiches Nachwort bei. Das großformatige „Best of“-Ziegler-Kompendium enthält elf seiner hervorragendsten (und „gründlich überarbeiteten“) Kurztexte, darunter das legendäre „Eine Kleinigkeit für uns Reinkarnauten“ und die mit dem Kurd Laßwitz Preis ausgezeichnete 1983er Novellen-Urfassung seines vielgelobten und mehrfach überarbeiteten Romans DIE STIMMEN DER NACHT (1984, 1993, 2014), für den er 1994 ebenfalls den KLP bekam. Nur wenigen Autoren ist es vergönnt, gleichermaßen gute Texte sowohl in der Kurz- wie in der Langform schreiben zu können (von der Begabung für Drehbücher und Serien-Exposés ganz zu schweigen), weshalb jedes Ziegler-Buch ein Gewinn ist. Wenn es dann so aufwändig betreut daherkommt, lautet die Devise: zugreifen!

Nachdem die Zahl von Original-Anthologien mit herausragenden internationalen Science-Fiction-Geschichten bei uns inzwischen gegen Null geht, freut es mich umso mehr auf die von Yvonne Tunnat und Chris Witt zusammengestellte Sammlung IHR KÖRPER, DAS SCHIFF (A7L Books, ISBN 978-3-69028457-8, 310 S., Klappenbroschur) hinweisen zu können. Wie die Herausgeberinnen in ihrem Nachwort betonen, haben sie sich viel Zeit genommen, jede Menge Geschichten verworfen, den Rahm abgeschöpft und sich für 15 Stories entschieden, die in englischsprachigen Magazinen und Anthologien der letzten Jahre veröffentlicht wurden und dann z. B. den HUGO Award gewannen. Aufgrund der fehlenden Übersetzungen sind viele der Autor*innen hierzulande unbekannt, obwohl sie (wie z. B. Naomi Kritzer, Mahmud El Sayed oder Frank Ward) in ihrer Heimat bereits zum festen Bestand der „Next-SF-Generation“ gehören. Damit unsere deutschen Schriftsteller*innen nicht gänzlich den Anschluss ans Weltniveau verlieren, wäre es schön, wenn wieder mehr internationale SF zu uns käme. Bis dahin bleibt nur, jede neue Anthologie zu kaufen (um die Verleger zu überzeugen), zu lesen (um Spaß zu haben) und zu feiern (hiermit geschehen).


ZITAT

„Aus dem anderen Zimmer kam das Har-har-har. »Traue niemals jemand mit einem Lachen, das man buchstabieren kann«, sagte der alte Mann.“

Percival Everett – DR NO (S. 253)



Zurück

Next