TEMPORAMORES - Newsletter # 406 - 18.4.2025




KURZMELDUNGEN

So. Buchmesse rum. Bücherhaufen links. Tastatur vorne. Wasserflasche rechts. Auf geht’s! Dieser Newsletter, sagt mir mein Gefühl, wird wohl etwas umfangreicher als gewohnt, also lehnen Sie sich zurück und nehmen Sie sich für heute nichts mehr vor.

Den größten Brocken (sowohl zahlen- wie formatmäßig) lieferte der Berliner Hirnkost Verlag, der ja vor allem Jugendkultur macht und für den Science Fiction lange Zeit eine Nische war. Inzwischen sieht das, vor allem wegen der herausragenden Reihe „Wiederentdeckte Schätze der deutschsprachigen Science Fiction“, etwas anders aus. Deren achter Band ist Werner Illings sozialpolitischer Zukunftsroman UTOPOLIS (ISBN 978-3-98857-072-7, 450 Seiten) aus dem Jahr 1930, der jetzt in einer vorbildlichen Neuausgabe vorliegt. Illing war gleichermaßen staatsphilosophischer Vordenker wie antizipierender Visionär. Seine utopische Zukunfts­gesellschaft besitzt selbstfahrende Autos, Fernsehen und Telekommunikation, Magnetschwebe­züge und Strahlenwaffen ebenso wie (noch vor Aldous Huxley) Wissensvermittlung mittels Hypno-Schlaf. Versehen mit einem Vorwort von Hans Frey und einem Nachwort von Joachim Ruf, ergänzt durch ein gutes Dutzend Kurzgeschichten Illings, bietet sich UTOPOLIS hier zu einer (Neu- oder Wieder-)Entdeckung an, die belegt, dass die deutsche Science Fiction der Weimarer Zeit durchaus Weltniveau besaß.

Schwer getroffen vom Verlust des „Wiederentdeckte Schätze“-Mitherausgebers Hans Frey (1949–2024) ging man bei Hirnkost in die Offensive und veröffentlicht nun als ersten Sonderband der Reihe die überformatige Zusammenstellung FORTSCHRITT UND FIASKO / AUFBRUCH IN DEN ABGRUND (ISBN 978-3-98857-120-5, 685 Seiten), in der die beiden ersten Bücher Freys zur Geschichte der deutschsprachigen Science Fiction enthalten sind. Das emotionale Vorwort stammt von Hardy Kettlitz, das Nachwort steuerte Karlheinz Steinmüller bei, der wohl in Zukunft Freys Platz als Mitherausgeber an der Seite von Verleger Klaus Farin einnehmen wird. Der Mammut-Band erzählt die Genre-Historie von 1810 bis 1945 in Freys unnachahmlichem, weil überaus lesbaren Stil: kenntnisreich, liebevoll, objektiv und absolut auf der Höhe der Zeit.

Nicht innerhalb der Science-Fiction-Klassiker-Reihe, jedoch in Erscheinungsbild und Ausstattung an diese angelehnt, veröffentlicht Hirnkost seit einiger Zeit die Werke von Bertha von Suttner. Dass Suttner (1843–1914) eine der bemerkenswertesten Persönlichkeiten der vorletzten Jahrhundertwende war, deren unermüdlicher Einsatz für den Frieden und die Menschenrechte ihr eigentlich ewigen Ruhm hätte bescheren müssen, wird immer mehr zum Allgemeinplatz; dass Suttner aber auch eine fleißige Produzentin von phantastischer Literatur war, gehört immer noch zu den großen Geheimnissen der Philologie. In dem „umgekehrten Fürstenspiegel“ SCHACH DER QUAL (ISBN 978-3-98857-138-0, 229 Seiten), erstmals 1898 erschienen, lässt Suttner den steinreichen „Prinz Roland“ an den Qualen verzweifeln, die Mensch und Tier erleiden müssen. Deshalb beschließt er, eine Programmschrift zu veröffentlichen, mit der er seinesgleichen zu einer empathischen und die Welt liebenden Gemeinschaft zusammen­bringen will, analog zum Kampfruf der Arbeiter unter dem Schlagwort „Aristokraten aller Klassen, vereinigt euch zum Kampf gegen alle Qual!“ Diese erste Neuausgabe nach über 125 Jahren zeigt deutlich, welchen Idealen Bertha von Suttner anhing. In Margot Käßmanns sehr persönlichem Vorwort wird dann auch klar, dass Suttners Vorbild mehr auf einzelne Personen als auf größere Gruppen wirkte – aber immerhin!

Große Ereignisse werfen ihre Publikationen voraus: Das inzwischen professionell gewordene ehemalige Fanzine EXODUS wird laut Herausgeber René Moreau vermutlich mit der Jubiläums-Nummer 50 sein Erscheinen einstellen. Doch vorher wurde Anfang April die Ausgabe 49 ausgeliefert. Wie immer geht es um „Science Fiction Stories & Phantastische Grafik“, wie immer sind die 116 Hochglanzseiten gefüllt mit großartigem Artwork (diesmal u. a. Illustrationen von Mario Franke, Thomas Franke, Detlef Klewer, Nicole Erxleben, Andreas Möller und Niklas Peter Robin Kappenstein) und herausragenden Kurzgeschichten. Die 14 Stories verfassten Stammautoren wie Uwe Post, Marco Rauch, Ulf Fildebrandt, Roland Grohs und Wolf Welling, andererseits sind mit Moritz Boltz und Johann Lotter auch Neulinge zu begrüßen. Ein Novum bietet das „Story-Doppel“ von Andreas Eschbach und Attila Geole. Da Geoles Geschichte „Writing Tomorrow“ direkt als Hommage an Eschbachs „Driving Tomorrow“ gedacht war, wurde bei diesem nachgefragt und er erteilte die Erlaubnis, seine Story gleich mit abzudrucken. Den „Galerie“-Teil und die Einbandillustrationen bestreitet diesmal Cuculum (aka Axel Kuckuk), der mit mehr als 20 Arbeiten vertreten ist und von Katharina s. East vorgestellt wird. Dass es die EXODUS in irgendeiner absehbaren Zukunft nicht mehr geben soll, wird von Heft zu Heft weniger vorstellbar!

Nachdem es für 2025 nicht geklappt hat, nahm man beim Atlantis Verlag jetzt allen Kritikern den Wind aus den Segeln: der Kalender PHANTASTISCHE WELTEN 2026 (ISBN 978-3-86402-964-6) liegt seit Ende März vor und kann beim Verlag bestellt werden. Unter der Ägide von Meisterdesigner Timo Kümmel haben die Redakteure von COZMIC, phantastisch! und EXODUS zwölf herausragende Bilder aus ihrem reichen Fundus herausgesucht und für ein eindrucksvolles Kalender-Projekt zur Verfügung gestellt. Die Arbeiten von Jan Hoffmann, Michael Vogt, Olaf Kemmler, Dirk Berger, Frauke Berger, Helmut Wenske, Hubert Schweizer, Karsten Schreurs, Meike Schultchen, Paul Hoppe, Thomas Franke und Thomas Thiemeyer kennen viele natürlich, da sie als Cover oder Illustrationen für besagte Magazine dienten; dort aber waren sie zumeist mit mehr oder weniger Beschriftungen „verziert“. Hier, in diesem DIN A4 großen Wandkalender, stehen sie als Kunstwerke eigenen Rechts über dem Monatskalendarium. Im Anhang finden sich dann noch Kurzporträts der Künstler*innen. Einziges „Manko“: Das durchaus gelungene Deckblatt von Kümmel hängt jetzt acht Monate lang „auf dem Kopf“, da wohl niemand darauf geachtet hat, wo die Lochung ist. J

Obwohl sie seit fast vierzig Jahren Genreliteratur schreibt, ist Kij Johnson hierzulande relativ unbekannt geblieben. Das liegt wohl vor allem daran, dass sie überwiegend Stories und Novellen schreibt und ihre wenigen Romane in den Bereich der Tierfantasy gehören oder noch gar nicht übersetzt wurden. Nachdem 2014 bei Golkonda eine erste Sammlung ihrer meisterhaften und vielfach mit Preisen ausgezeichneten Kurzgeschichten erschienen war, wagt sich nun der Wandler Verlag daran, diese Ausnahmeautorin erneut mit einem Sammelband ins Rennen um die Leser*innenaufmerksamkeit zu schicken. DIE TRAUMSUCHE DER VELLITT BOE (ISBN 978-3-948825-24-9, 238 Seiten, Klappenbroschur) ist eine Originalzusammenstellung von sechs Erzählungen, von denen die Titelstory mit 120 Seiten gut die Hälfte des wunderschön ausgestatteten Buches einnimmt. Übersetzt wurden die Geschichten von Hannes Riffel, wobei man dem Impressum entnehmen kann, dass für die an H. P. Lovecrafts „Traumsuche nach dem unbekannten Kadath“ angelehnte Geschichte „Die Traumsuche der Vellitt Boe“ der Lovecraft-Spezialist Alexander Pechmann als Berater hinzugezogen wurde – so viel Aufwand betreiben in Deutschland nur ganz wenige Verlage, das Ergebnis kann sich aber auch wirklich sehen lassen. Der Sog von Johnsons Prosa ist unmittelbar, die Anziehungskraft aller Geschichten reicht vom ersten bis zum letzten Satz und dass die meisten der Geschichten nicht nur für einen oder mehrere Preise nominiert waren, sondern diese auch zumeist gewonnen haben, erschließt sich nach Ende der Lektüre sofort. Ob Science Fiction, Horror, Phantastik, Fantasy: Johnson zeigt sich als Kennerin aller Genres und als meisterhafte Geschichten-Weberin. Falls jemals ein Alien-Sultan das Überleben der Menschheit an das allnächtliche Erzählen von 1001 Geschichten knüpfen würde, sollten wir Kij Johnson dafür auswählen.

Nur Stil und Experiment, keinerlei nachvollziehbare Handlung: ES WÄHRT FÜR IMMER UND DANN IST ES VORBEI (ISBN 978-3-518-43222-8, 150 Seiten) von Anne de Marcken im Suhrkamp Verlag. Der „Roman“ gewann den Ursula K. Le Guin Prize for Fiction 2024 und wurde von Georg-Büchner-Preisträger Clemens J. Setz aus dem amerikanischen Englisch in ein dem Original angemessenes, gleichzeitig zärtliches und verwirrendes Deutsch übertragen. Das lyrische Ich wandert, begleitet von einem in Rätseln sprechenden Raben, zombiegleich durch eine postapokalyptische Welt – auf der Suche nach einem „Etwas“, das vergessen ist und das zu finden auch keine „Erlösung“ böte. Das schmale Hardcover schmückt zudem ein eindrucksvoller Schutzumschlag. Ein solches Buch ist eigentlich nur bei Adepten der Suhrkamp-Kultur gut aufgehoben.

Ja, und dann war ich Anfang April ins Hanauer Märchenschloss zu einer Buchpremiere eingeladen, auf die ich mich seit Monaten gefreut hatte. Der vor 85 Jahren in Hanau geborene und immer noch dort lebende Maler Helmut Wenske (und sein literarisches alter ego Chris Hyde) stellte zu diesem Lebensjubiläum gemeinsam mit dem Hirnkost Verlag sein neuestes Buch COLOURS & SOUNDS (ISBN 978-3-98857-126-7, 455 Seiten) vor. Mit der ihm eigenen Chuzpe hat Wenske/Hyde seine „unkastrierten Erinnerungen an eine berauschende Zeit“ in die Tasten seiner alten Schreibma­schine geklopft, hat mittels Kopierer, Schere und Kleber Texte und Bilder auf schwarzem Karton fixiert und ein Erinnerungsbuch voller „Stories und Malerei zur Rock-Musik“ zusammengeschu­stert, das zwar seinen Verleger Klaus Farin zum Haare raufen brachte, seine treue Leserschaft aber mit einem prachtvoll-gelungenen, quadratischen, auf superschwerem Hochglanzpapier gedruckten Hard­coverband beglückt. Gleich der seine Klampfe schwingende höllenviolett-nebelumwaberde Jimi Hendrix auf dem Einband zeigt, wohin die Reise diesmal geht: die Schallplatten-Cover, Bucheinbände und Poster mit denen Wenske seit den 1960er Jahren das Erscheinungsbild der deutschen Popkultur auf Weltniveau hievte! Wie nur ganz wenige andere kontinentaleuropäische Künstler verstand es Wenske, die Kontrolle über sein Werk zu behalten und nur Bilder (und Texte) zu veröffentlichen, die seinen eigenen Ansprüchen genügten. Dass er dabei als Art-Director einer Plattenfirma und als selbst­ständiger Promoter seiner Werke immer die Kunst über den Kommerz stellte, brachte ihn zwar in manch wirtschaftliche Turbulenzen, ist jedoch bis heute einer der Gründe dafür, dass alte Weggefährten (wie die Jungs von NEKTAR) zu ihm stehen und neue, progressive Bands wie CLIFFSIGHT einen Mentor in ihm finden. In COLOURS & SOUNDS sind nicht nur die bekannten und erfolgreichen Platten- und Buch-Cover abgebildet, sondern auch viele Bilder, die bisher weniger Öffentlichkeit fanden, sowie die Geschichten dazu – und jede Menge Foto-Dokumente, die sowohl den öffentlichen wie den privaten Künstler und Menschen Helmut Wenske zeigen wie er war und ist: immer inmitten der Menschen die er liebt (auch wenn die Liebe dieses Hanauer Urgesteins manchmal getarnt hinter einem knallharten Spruch daher kommt). Dieses Buch liest sich süffiger als ein Action-Reißer und ist spannender anzuschauen als das Poesiealbum der Rolling Stones (auch weil Keith Richards die Ehre widerfuhr, gleich mit drei Porträts vertreten zu sein). Absolut empfehlenswert!


ZITAT

„Was mich betrifft, wär’s mir am liebsten, man würde meine Leiche irgendwo im dicksten Dickicht im Wald verscharren. Die könnte dann ’ne Wildsau ausbuddeln und sich den Wanst vollschlagen oder ein hungriger Fuchs fressen. Irgendwann gingen wohl meine Überbleibsel als tierische Fäkalien zurück in die Erde, dringen in die Wurzeln der Büsche  und Bäume ein und der Kreislauf des Lebens ist geschlossen. Aber es wäre mir auch scheißegal, wenn man meinen Kadaver zur Entsorgung in den Löschkalk schmeißt. Ich hab’s nicht so mit der Pietät und erinnere mich an Verstorbene, wie sie zu Lebzeiten waren. Ihnen sind meine Bücher gewidmet.“

Wenske/Hyde in: COLOURS & SOUNDS (S. 449)



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